Die verflüchtigte Solidatität

Von Inklusion spüren Familien mit Behinderten heute weniger als vor 40 Jahren. Umso mehr brauchen sie Orte, an denen sie gesehen werden. Zum Beispiel Kirchengemeinden.

„Wir sind stolz auf unser Kind“

"Herausforderung pur“: So nennt Tills Mutter den Alltag mit ihrem Sohn, der mit einem Down-Syndrom lebt. Die Anforderungen an seine Familie sind in vielen Bereichen größer, die Verantwortung der Eltern ist dauerhafter und unausweichlicher, ihre „Gegenabhängigkeit“ von einem Kind größer, das bei so vielen alltäglichen Verrichtungen abhängig und auf Hilfe angewiesen ist. Und die Perspektive ist weit offener: „Nein, auch wenn er sich noch so anstrengt, wird er niemals, von Insidern abgesehen, andere Menschen durch seine Leistungen beeindrucken. Er ist Herausforderung pur, Leben in seiner Vielfalt und seinem Anderssein zu akzeptieren und unsere Leistungsgesellschaft in Frage zu stellen.“(1)

Und doch empfinden Eltern wie Tills Mutter sich als ganz normale Familie mit ganz normalen Anforderungen und Schwierigkeiten. Mehr noch: „Wir sind stolz auf unsere Söhne und Töchter mit Behinderung. Sie bereichern unser Leben und unsere Gesellschaft, und wir ermöglichen ihnen ein Leben in weitgehender Normalität.“

In einer „flüchtigen“ Gesellschaft, wie der Soziologe Zygmunt Bauman sie beschreibt, ist das alles andere als einfach. Diese Gesellschaft wirft ihre Mitglieder mehr und mehr auf ihre eigenen Ressourcen zurück, fordert sie auf, ihre Interessen selbst zu vertreten. Alles Haltgebende verflüchtigt sich, alles Verbindliche gilt als hinderlich für den Fortschritt. Mit dem Postulat der Selbstverantwortung und den sozialpolitischen Rezepten, die es nach sich zieht, sehen sich auch Menschen konfrontiert, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind – und dazu gehören eben auch Menschen mit Behinderungen und ihre Familien. Sie geraten in einen Strom negativer Zuschreibungen, sehen sich gebrandmarkt als Menschen, die der Gesellschaft vermeintlich „auf der Tasche liegen“. Spätestens seit der „Agenda 2010“ setzt das Sozialstaatskonzept auf die Vermeidung von Sozialleistungen – eine deutliche Ent-Solidarisierungserklärung gegenüber allen, die dauerhaft auf Unterstützung angewiesen sind. Die Verknappung von Mitteln für Menschen mit Behinderungen ist zugleich Symptom und Wirkung einer gesellschaftlichen Haltung, die hilfebedürftigen Menschen immer weniger mit Respekt und Anerkennung begegnet.

„Musste das denn wirklich sein?“

Eltern behinderter Kinder erleben vielfach schon vor deren Geburt, dass ihnen Solidarität verweigert wird. Der medizinische Fortschritt und die wachsenden Möglichkeiten der Pränataldiagnostik verschärfen die Individualisierung von Verantwortung von Anfang an; Behinderung wird zum individuellen Risiko deklariert. Werdende Eltern sollen möglichst viele Checks nutzen – aber eine ausreichende Beratung darüber, auf was sie sich da eigentlich einlassen und in welche Entscheidungsnöte die Untersuchungen sie möglicherweise stürzen? Fehlanzeige. Der Begriff „Vorsorge“ suggeriert, dass es möglich sei, eine Behinderung frühzeitig zu verhindern. Tatsächlich können die Mediziner bestenfalls feststellen, dass eine bestimmte Behinderung – mit hoher Wahrscheinlichkeit – vorliegt; das einzige, was sich wirklich verhindern ließe, ist die Geburt dieses Kindes. Wie auch immer die Pränataldiagnostik ausgeht und wie auch immer Eltern sich entscheiden: In dieser höchst prekären Situation bleiben sie vielfach alleingelassen. Eltern, die sich bewusst für ein behindertes Kind entscheiden, ernten nur selten Solidarität. Sie begegnen eher der Frage: „War das denn nötig?“ Und der Konse­quenz: „Nun seht also selbst zu, wie ihr damit fertig werdet.“ Selbst vermeintliche Anerkennung, in Schmeichelei verpackt, erweist sich bei genauem Hinsehen oft als doppelbödig: „Das könnte ich nicht, was du da jeden Tag leistest.“ Dass Mütter und Väter behinderter Kinder in der Tat täglich an die Grenzen ihrer psychischen und physischen Belastung kommen, wird damit schnell übergangen, zumindest aber zu ihrem eigenen Problem deklariert.

Spießrutenlaufen im Bildungswesen

Umso mehr brauchen Eltern von behinderten Kindern professionelle Beratung und Unterstützung. Mindestens genauso wichtig kleine Gegenerfahrungen, die sich im Alltag manchmal ganz zufällig ergeben – wenn jemand eben nicht wegsieht, nicht bemitleidet, nicht bewertet, sondern sich auf Kontakt einlässt oder ihn sogar sucht, einfach da ist und Unterstützung anbietet, wo sie nötig ist. Zum Beispiel im Bereich von Kindergarten und Schulen. Von Integration, geschweige denn Inklusion sind sie heute oft weiter entfernt als in den 1970er Jahren. Das Schulsystem ist in hohem Maß durch Selektion und Ausgrenzung gekennzeichnet; fachliche Hinweise auf den Gewinn, den eine „Schule für alle“ für alle (und eben nicht nur für behinderte) Schülerinnen und Schüler bedeuten könnte, verhallen ungehört. Stattdessen zeigt sich das Schulsystem unter dem Druck von Standards, verkürzter Schulzeit und PISA immer weniger lern- und immer mehr leistungsorientiert. Und mit dem „Bildungsauftrag“ an die Kindertagesstätten verlagert sich der Leistungsdruck längst auch in die Vorschulzeit. Jeder Übergang von der Erstanmeldung im Kindergarten über die Einschulung bis zum Weg in die berufliche Ausbildung bedeutet für Eltern mit einem entwicklungsverzögerten, hörgeschädigten oder „verhaltensauffälligen“ Kind ein Spießrutenlaufen, weil sich immer wieder die Frage stellt: Kann das Kind einen „normalen“ Weg einschlagen oder ist es früher oder später doch auf eine Sondereinrichtung angewiesen? Erleben Eltern hier Solidarität durch andere Eltern? Oder doch öfter die Anfrage, ob ihr Kind mit seiner Behinderung nicht den Lernfortschritt der anderen Kinder in der Kita oder in der Schulklasse aufhalte?

Grundprinzip „Solidarität“

„Solidarität“: Dieses Grundprinzip der Sozialethik meint etwas anderes als eine Beziehung zu wechselseitigem Vorteil. Der Imperativ hinter dem Solidaritätsbegriff heißt, so hat der Psychiater Klaus Dörner es formuliert: „Handle in deinem Verantwortungsbereich so, dass du mit dem Einsatz all deiner Ressourcen an Empfänglichkeit, Verwundbarkeit, Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit und Liebe immer beim jeweils Schwächsten, Letzten beginnst, bei dem es sich am wenigsten lohnt.“ Die amerikanische Philosophin und Sozialethikerin Eva Kittay, selbst Mutter einer schwerstbehinderten Tochter, sah durch diese Erfahrung ihre Welt auf den Kopf gestellt. Sie, Philosophin mit Leib und Seele, würde mit ihrer Tochter nie in ein philosophisches Gespräch eintauchen können: „Sie würde nicht die Schätze der Philosophie teilen können, sich noch nicht einmal entfernt dem annähern können, was, so hatte ich angenommen, meinem Leben einen Sinn gab. Ich begegnete jeden Tag einem wunderbaren Menschen, der kein einziges eindeutiges Anzeichen rationaler Fähigkeit zeigte. Während ich die Schriften von Philosophen las und lehrte, welche die Sprache für das bestimmende Merkmal des Menschseins hielten, konnte eben diese Tochter kein einziges Wort herausbringen.“ Diese Erfahrung hat die Verhältnisse für Eva Kittay zurechtgerückt: Für sie sind Behinderung und ein Leben in Abhängigkeit nicht (mehr) ein irgendwie gearteter Ausnahme- oder Sonderfall, sondern der Normalfall: Ausgehend von einem Leben in Abhängigkeit ist zu beschreiben, was menschliche Würde ist und was wir als Menschen in

der Beziehung einander schulden. „Wir alle sind das Kind einer Mutter und eines Vaters.“ Die Vorstellung von Autonomie ist ein Mythos; das Leben jedes Menschen ist von Abhängigkeit und Gegenabhängigkeit geprägt. Diese Abhängigkeit gerade nicht zu werten, sondern als Tatsache anzuerkennen, geht gegen den Trend: Es geht darum, Menschen in ihren fragilen Beziehungen wahrzunehmen, die Qualität innerhalb von fürsorgenden, von wechselseitiger Abhängigkeit gekennzeichneten Beziehungen zu sichern. Faktische Ungleichheiten und Machtgefälle dürfen dabei nicht verleugnet, sondern müssen wahrgenommen und permanenter kritischer Selbstreflexion zugänglich gemacht werden.

Das Verständnis Eva Kittays von Abhängigkeit und Verantwortung als Grundtatsache menschlichen Lebens ist in hohem Maße anschlussfähig an das christliche Verständnis von Solidarität, die sich durch folgende Aspekte kennzeichnen lässt:

•          Solidarität und Gerechtigkeit gehören zusammen.

Solidarität verschafft den Notleidenden Recht. Es geht nicht um ein barmherziges Herabneigen zu den Bedürftigen, sondern darum, für ihre fundamentalen Rechte einzutreten. Der Zorn des Propheten Amos etwa entbrennt, weil das Volk das Recht der Armen „in Wehmut verkehrt und die Gerechtigkeit zu Boden stößt“ (Amos 5,7). Solidarität verbindet Mitgefühl mit Gerechtigkeit. Die Gesellschaft – und jede und jeder einzelne – ist aufgefordert, Ressourcen für die Schaffung von sozialen Netzwerken bereitzustellen, in denen Familien mit behinderten Angehörigen wohnortnah und ganz konkret Unterstützung erhalten.

•          Solidarität ist eine wechselseitige Form der Fürsorge.

In seinem Buch „Adam und ich“ berichtet Henri Nouwen von einer solchen Erfahrung wechselseitiger Fürsorge, die er im Zusammenleben mit dem schwerstbehinderten Adam in einer Lebensgemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderung gemacht hat: „Adam erinnerte uns daran, dass die Schönheit und Größe der Sorge für andere nicht nur darin liegen, zu geben, sondern auch zu empfangen. Adam war derjenige, der mir die Augen dafür öffnete, dass das größte Geschenk, das ich ihm machen konnte, meine offene Hand und mein offenes Herz waren. Er ‚ließ uns wissen‘, dass Fürsorge sowohl Empfangen als auch Geben bedeutet. Für Adam zu sorgen bedeutete: Adam zu gestatten, ebenso für uns zu sorgen, wie wir es für ihn tun.“

•          Solidarität gibt den Notleidenden eine Stimme.

Wie der Psalm 69 es zum Ausdruck bringt: „Gott, hilf mir, denn das Wasser geht mir bis zur Kehle … Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser …“ (Psalm 69, 2). Das ganze Buch Hiob im Alten Testament ist eine solche Klage, ja sogar Anklage gegen Gott und das Schicksal, das Hiob, den Unschuldigen, ereilt hat. Gott gibt seiner Klage Recht, auch wenn er das Geschehene nicht ungeschehen macht. Das Entscheidende ist: Die Klage und das Hören der Klage bringen Hiob aus der Rolle des unschuldigen, vor Schmerz gelähmten und handlungsunfähigen Opfers in die Rolle eines handelnden Subjekts. Das Hören der Klage bedeutet, sich „auf den gleichen Boden zu stellen“. Dieses Bild steckt auch im lateinischen Wort solum (= Boden, Grund und Boden), das ein Wortursprung des Solidaritätsbegriffs ist.

•          Solidarität ist mehr als ein Prinzip. Sie ist eine Haltung, die nur als praktizierte Solidarität real ist.

Solidarität als Haltung bedeutet, dass ich nicht umhin komme, mich auszusetzen, einschließlich der Gefährdungen und Grenzen in dem Versuch, solidarisch zu sein und andere zu Solidarität anzustiften. Der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas denkt in diesem Sinne Verantwortlichkeit mit Nähe zusammen: „Nahen heißt, der Hüter meines Bruders, die Hüterin meiner Schwester sein.“ Das Mit-Leiden, die Solidarität, die geschwisterliche Verantwortung sind Ur-Qualitäten christlicher Praxis.

Im vergangenen Jahr wurde die UN-Deklaration der Rechte von Menschen mit Behinderungen für Deutschland rechtskräftig. Sie stellt neben dem Schutz vor Menschenrechtsverletzungen den Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesellschaft ins Zentrum. Was bedeutet das für Familien mit behinderten Angehörigen im Blick auf ihr soziales Umfeld?

Neben der professionellen Hilfe sind sie darauf angewiesen, im sozialen Nahbereich ganz praktische Unterstützung zu finden. Kirchengemeinden können Orte sein, an denen sie solche Erfahrungen machen. Sie können sich selbst als Agenten von Solidarität verstehen, Räume bieten, in denen Menschen ihre Erfahrungen austauschen und teilen können. Von diesem Anspruch ist die Realität vieler Kirchengemeinden weit entfernt: Wie selbstverständlich gehen behinderte Kinder mit allen Kindern der Gemeinde in die Erstkommunionvorbereitung? Wie selbstverständlich werden sie mit ihren Altersgenossen gemeinsam gefirmt, auch wenn sie nicht mit ihnen gemeinsam zur Schule gehen? Werden Kinder mit Behinderungen eingeladen, Messdienerinnen und Messdiener zu sein und ins Ferienlager der Pfadfinder mitzufahren? Öffnet die örtliche Familienbildungsstätte ihre Angebote für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen? Werden Familien mit behinderten Angehörigen als Experten wahrgenommen, die etwas zu sagen haben, als Menschen, die aufgrund ihrer Erfahrungen in besonderer Weise wissen, worauf es im Leben ankommt? Erleben Familien Gemeinden als Orte, an denen sie sich nicht rechtfertigen müssen für die Behinderung ihres Kindes?

Menschen mit Behinderungen und ihre Familien möchten teilhaben – ganz normal am ganz normalen Leben in ihren sozialen Nahräumen, auch in ihren Gemeinden. Sie wünschen sich Menschen, die auch Ohnmacht, Ratlosigkeit und Sprachlosigkeit aushalten, die zuhören, hinsehen, wahrnehmen was ist, die einfach da sind. Netzwerke, wie Gemeinden sie sein könnten, sind kein Ersatz für die individuell gelebte innere Haltung der Solidarität; aber sie sind Orte der Anstiftung zur Solidarität, die nicht einfach so vorhanden ist, nur weil es Netzwerke gibt.

Eine inklusive Gemeinde unterstützt Familien mit behinderten Angehörigen auf verschiedenen Ebenen:

  • moralisch, indem sie ihre Bedürfnisse ins Zentrum der Gemeinde stellt – gegen die Dauergefährdung der sozialen Isolation – und so ihre Not öffentlich macht,
  • pastoral und spirituell, indem sie christliches und gemeindliches Leben als Quelle gemeinsamer Hoffnung und gelebter Solidarität für Betroffene erfahrbar macht,
  • personal, indem sowohl hauptamtliche wie ehrenamtliche MitarbeiterInnen ihnen als verlässliche BegleiterInnen zur Verfügung stehen.

Durch familienpolitische Einmischungen auf lokaler Ebene kann sich die Gemeinde zugleich als Akteurin im Sozialraum verstehen, die sich für das Gemeinwesen als Ganzes und die Menschen, die dort leben, verantwortlich weiß – gerade für diejenigen, die sonst keinen Ort haben, an dem sie mit ihren Bedürfnissen angemessen wahrgenommen werden.

Eine Wundererzählung im Neuen Testament bringt es auf den Punkt: Einige Aussätzige sprechen Jesus an und bitten darum, geheilt zu werden. Jesus fordert sie auf: „Geht, zeigt euch den Priestern!“ (Lk 17,14) Das verschafft ihnen An-Sehen: Die Priester sollen nicht weiter wegsehen können. Und auf dem Weg zu den Priestern wurden die Aussätzigen „rein“, die Krankheit verschwand.

Das „Geht und zeigt euch“ kann vielleicht ein Modell sein für die unterstützende Solidarität mit Familien: Sie brauchen von uns nicht primär Hinweise, was sie tun oder lassen sollen – sie wollen gesehen werden, brauchen unsere echte Solidarität, und sie brauchen Netzwerke, auf die sie sich verlassen können.

Sabine Schäper

1) Die Aussagen der Mutter sind zitiert in: W. Wagner-Stolp (2007), Sehr normal und doch verschieden: Zur Situati­on von Familien mit behinderten Kindern. Veröffentlicht im Internet unter www.lebenshilfe-aktiv.de